Die Tukano sind eine der größten Volksgruppen, die im Einzugsgebiet des Rio Negro leben. Genauer gesagt am Rio Tiquié, einem der mächtigsten seiner 700 Nebenflüsse. Gemeinsam mit unseren Partnerorganisationen ISA und FOIRN halten in der Region seit vielen Jahren sogenannte „Umweltbeauftragte“ (portugiesisch AIMA) Beobachtungen über die Zusammenhänge zwischen landwirtschaftlichen Praktiken, Fischbeständen, dem Sammeln von Früchten, Jagdzeiten, Ritualen und Bräuchen mit den jährlich stattfindenden (klimatischen) Zyklen fest. Tägliche Aufzeichnungen dienen dabei als Grundlage für die Analyse. Sie werden zu einer Jahresübersicht zusammengeführt und mit dem traditionellen Kalender der Tukano verglichen.
Da der Rio Tiquié in Äquatornähe liegt, variieren diese Sternbilder kaum und erscheinen zumeist um die gleiche Uhrzeit. Die Regenzeiten sind dabei ebenfalls nach diesen Sternbildern benannt. In den Erzählungen der Völker des Rio Tiquié steht jede dieser Sternenkonstellationen in engem Zusammenhang mit einer Episode des Gründungsmythos.
Die sauren und nährstoffarmen Böden und Gewässer des nordwestlichen Amazonasgebiets stellen komplexe ökologische Herausforderungen an seine Bewohner:innen – sie zu kennen, nutzen und verstehen erfordert jahrtausendelange Beobachtungen der natürlichen Lebenszyklen und eine generationenübergreifende Wissensweitergabe. Diese harschen Bedingungen bestimmen soziokulturelle Praktiken und Rituale und bilden die natürliche Grundlage für den jahreszeitlichen Kalender der Tukano. Die Übereinstimmung der natürlichen Zyklen ist für die Bewohner:innen des Rio Tiquié daher essentiell, denn sie ernähren sich vordergründig aus der sie umgebenden Natur und sind auch teilweise auf das Vorkommen gewisser Pflanzen für die Vorsorge und Heilung bestimmter Erkrankungen angewiesen.
Die Gegenüberstellung der durch die indigenen Umweltbeauftragten gesammelten Aufzeichnungen mit westlichen Klimadaten veranschaulicht das komplexe Verständnis über natürliche Kreisläufe, welches die indigenen Völker der Region besitzen. Aufgrund ihrer Innensicht auf die ökosystemischen Kreisläufe gelten die indigenen Bewohner:innen als zentral für den Erhalt der natürlichen Artenvielfalt und in weiterer Folge auch für den Klimaschutz.
Leider zeigen die Beobachtungen immer deutlicher, dass die jährlichen Zyklen sich zunehmend verschieben und beispielsweise länger anhaltende Hochstände in den Flüssen dazu führen, dass bestimmte Fischarten nicht mehr vorkommen. Darum wurde der Kalender adaptiert und die einzelnen Kreise, die jeweils für bestimmte Naturphänomene stehen, sind nun verschiebbar – doch leider schafft dies nur bedingt Abhilfe, denn die Zyklen drohen durch die rasch voranschreitende Klimakrise immer weiter auseinanderzuklaffen.